Prof. Dr. Anne Begenat-Neuschäfer: Wir brauchen Visionen!

Zunächst einmal möchte ich die AZ zum Interview mit dem Stanforder Komparatisten Hans Ulrich Gumbrecht beglückwünschen. Es ist wohltuend für die Leser, wenn sich der Blick aus der Region, naturgemäß auf die Ingenieur-und Technikwissenschaften fokussiert, auf geisteswissenschaftliche Debatten richtet, die Anschluss an die in überregionalen Tageszeitungen geführten Diskussionen finden.

Hans Ulrich Gumbrecht ist mir noch aus Siegener Zeiten bekannt. Er hat m.E. das große Erbe der deutschen Geisteswissenschaften aus dem 19. Jahrhundert, das Erbe der Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt und Wilhelm Diltheys aufgegriffen und zeitgemäß beleuchtet, wenn er postuliert, dass die Geisteswissenschaften in der Intensität des ästhetischen Erlebens ein existenzielles, kreatives Potenzial erschließen und an den technischen Hochschulen, an denen sie bestehen, den „intellektuellen Ort“ der Universität gestalten. Sie „erzeugen den eigentlichen intellektuellen Rahmen“ einer Universität. So schreibt er: „Eine gute technische Hochschule kann nur eine gute technische Hochschule sein, wenn sie sich auch Geisteswissenschaften leistet. Aber nicht, weil Geisteswissenschaftler als Dienstleister ethische Fragen lösen. Philosophem lösen keine ethischen Fragen, sie haben komplexere Perspektiven bei ethischen Fragen.“ Die Geisteswissenschaften auf Dienstleistungen einer Hochschule, die sich auf ihre „Kernaufgaben“ besinnen will, beschränken zu wollen, wäre in der Tat ein kurzsichtiger und für den akademischen Standort Aachen verhängnisvoller Mangel an Zukunftsvision.

Unter dem Rahmenthema „Umbrüche und Aufbrüche: Die portugiesischsprachige Welt im Aufbruch“ hat die Aachener Romanistik in der vergangenen Woche den 11. Deutschen Lusitanistentag im Auftrage des Deutschen Lusitanistenverbandes ausgerichtet. Mit dem Thema „Umbrüche und Aufbrüche“ haben wir uns, von diesem Kongress ausgehend, gesellschaftliches Ansehen für die fremdsprachlichen Sprach- und Literaturwissenschaften allgemein und die Würdigung ihrer zentralen Aufgaben erhofft.

Nichts mag so sehr wie die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Krisen, in denen sich Europa befindet, sichtbar machen, dass wir Verständigung untereinander brauchen, eine Verständigung, die zwingend die Wahrnehmung der Perspektive des Anderen voraussetzt. In einen wirklichen Dialog mit dem Fremden, mit dem, was uns stört, herausfordert, behindert oder beeinträchtigt, einzutreten, setzt die Wahrnehmung des Anderen, den Respekt vor seiner kulturgeschichtlichen und sprachlichen Deutung der Welt und die Bereitschaft voraus, die kulturellen und historisch gewachsenen mentalen Unterschiedlichkeiten gelten zu lassen. Dafür sind Erfahrungen, sich in Fremdsprachen zu bewegen und fremde Kulturen zu verstehen, unerlässlich. Den fremdsprachlichen Philologien kommt hier eine eminente Funktion als Übersetzer und Mittler zu.

In den derzeitigen Bildungscurricula wird gerne übersehen, dass Sprachen-Lernen zeitaufwendig und mühsam ist und vor allem in direkter Abhängigkeit von der Beherrschung der eigenen Muttersprache und ihrem differenzierten Gebrauch steht. Nicht jedem fällt wie den Humboldts das Sprechen in fremden Zungen zu. Noch viel lieber wird vergessen, dass für das Sprachen-Sprechen das schlichte Sprachen-Lernen nicht ausreicht. Wer nicht die kulturellen, historischen, politischen und sprachlich-regionalen Referenzen und Nuancen versteht und anzuwenden vermag, wird schnell sprach-los, auch wenn er das Fremdsprachen-Sprechen trainiert hat. Wenn es die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften nicht gäbe, müsste man sie erfinden, um sie als Grundfundament der zeitgenössischen Bildung einzuführen, das den Stellenwert des früheren Lateinunterrichts in Schulbildung und Universitätsstudium weitgehend einnimmt. Fremdsprachliche Philologien, insbesondere die romanische, die ihre Geburt in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts einem europäischen Anstoß verdankt und sich selbst niemals als nationale Philologie verstanden hat, sind für jede weitere politische, soziale, technische und ökonomische Entwicklung Europas grundlegend und unverzichtbar.

Die RWTH ist eine preußische Gründung, hervorgegangen aus jener Tradition, welche die Hugenotten als Glaubensflüchtige aufnahm und zu den loyalsten Verteidigern des Gemeinwohls machte. Wie wäre es, wenn die RWTH als führende technische Hochschule der Region, die neuen Entwicklungen in Europa aufgreifend, Ernst machte mit der gesellschaftlichen Verantwortung für künftige Aufgaben in den alten Kerngebieten Karls des Großen? Wenn sie, nicht nur aus eigenen Mitteln, sondern mit der Unterstützung durch Bund und private Geldgeber, ein interuniversitäres und grenzüberschreitendes Institut schüfe, dass die fremdsprachlichen Philologien vereinte und in Zusammenarbeit mit Lüttich und Maastricht für alle Hochschulen im Dreiländereck öffnete? Fremdsprachen-Lernen, curriculare Entwicklungen für die Schulen wie für eine Didaktik, die den Migrationen und vielfältigen Lebensläufen heutiger Schüler Rechnung trüge, fänden hier ebenso ihren Platz wie integrierte Studiengänge mit dem Maghreb (ich denke an die bereits bestehenden Verbindungen zu Meknès) oder interdisziplinäre Forschungs-und Lehrprojekte mit dem subsaharischen Afrika (ich denke an Wasser-und Abfallprojekte mit der Elfenbeinküste) und mit Brasilien, einem „Schwerpunktland“ der internationalen Kooperation der RWTH. Der Masterstudiengang „Europäische Studien“, bisher Stiefkind der Philosophischen Fakultät der RWTH, fände hier seinen anerkannten Platz. Die Lehrerausbildung unter Einbeziehung der Migrationsproblematik fände hier ihren Ort.

Es entstünde auf diese Weise in unserer Kernregion Europas ein interuniversitäres Lehr-und Forschungsinstitut, das sich unter Bewahrung des besten philologischen Erbes großer deutscher geisteswissenschaftlicher Tradition auf neue Herausforderungen öffnete und jungen Generationen den Weg in die Zukunft ebnete.

Eine solche Zukunftsvision für die Europastadt Aachen verdiente nach meiner Auffassung eine Umstrukturierung der bestehenden Philosophischen Fakultät und des Sprachenzentrums der RWTH Aachen. Ein solches interdisziplinäres Institut, das Anregungen der erfolgreichen Hochschule Sankt Gallens aufnähme, wäre es wert, Bestehendes gegen Zukünftiges einzutauschen, denn aus ihm könnte eine ganz neue Dynamik für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Aachen erwachsen! Dies wäre ein wichtiger Schritt in die Richtung „erstklassiger Geisteswissenschaften“, wie sie Gumbrecht für technische Hochschulen anregte. Ein erster Ansatz dazu ist mit der Ausrichtung der hiesigen Romanistik auf das Nachbarland Belgien (Belgienzentrum als Alleinstellungsmerkmal) und auf interdisziplinäre Projekte mit dem französisch-und portugiesischsprachigen Afrika und Brasilien (HumTec) gemacht. Dass diese Romanistik dafür internationale Anerkennung und ideelle wie materielle Förderung erfährt, steht außer Frage. Wie wäre es, wenn wir alle miteinander in Aachen, in Stadt und Hochschulen, endlich den Dialog eröffneten, um den wir Romanisten seit über einem Jahr bitten?